Auf dieser Internetseite publiziere ich Texte und Vorträge, die aus meinem beruflichen Spektrum als Sozialwissenschaftler stammen. Teilweise sind diese Arbeiten in Büchern und Fachzeitschriften veröffentlicht. Es sind aber auch Essays und Erzählungen aus anderen Lebensbereichen zu finden, die auf diese Weise ins Offene gelangen.

Dieser Auftritt kann als ontologischer Blog und Resonanzfeld betrachtet werden, in dem ich – in Anlehnung an Jörg Fauser – als Schreibender in meinen Texten existiere und gegenüber der Welt Stellung beziehe. Dieses Schriftgut ist in chronologischer Reihenfolge in drei Fächern aufbewahrt.

Kontexte

Der phänomenologische Zugang zu Problem- und Themenstellungen aus der alltäglichen Erscheinungswelt und die damit verbundene Methode des Sehens und Betrachtens bildet einen wesentlichen Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Es wird der Versuch unternommen, das Denken von den elementaren Phänomenen her zu entwickeln: Was zeigt sich? Was sehe ich? Wie verständlich ist das Selbstverständliche?

Das sozialwissenschaftliche Fach enthält Beiträge aus dem Feld der Erziehungswissenschaft und der Soziologie, zum Beispiel zur Geschlechter- und Lebenslagenforschung oder der Systemtheorie.

Im philosophischen Fach befinden sich Essays, die sich mit existenziellen Gedanken und zeitgenössischen Entwicklungen auseinandersetzen. Es handelt sich um Gedankenstriche zwischen Alltagspraxis, Zeiterleben und Sozialphilosophie.

Die dritte Textrubrik ist mit „Logbücher“ überschrieben. Dort finden Sie Erzählungen, Reiseberichte und Prosa, die aus meinen Notizbüchern (Logbüchern) stammen und sich mit Leidenschaften, Beobachtungen und der Absurdität verschiedener Lebens- und Wirkungsbereiche befassen. Es geht um die Zwiebelhaut zwischen Realität und Fiktion.

Sozialwissenschaftliches

Zwischen Individualisierung, Abkopplung und Zugehörigkeit

Junge Menschen in riskanten Lebenslagen

Warum die Kinder- und Jugendhilfe mit Systemherausforderern systembedingt an ihre Grenzen gelangt – eine Systemkritik

Oktober 2022

"Die Frau lächelte. Sie hatte sofort verstanden. Es war vielleicht auch nicht schwer. Wir sahen uns eine Sekunde an. Sie war, glaubte ich, das Einzige in dem Zimmer, was mich nicht tötete. Alles andere tötete mich, vor allem die kahlen Wände. Ich kann es mir nicht erklären, dass ich plötzlich wie ein Blöder anfing zu schwafeln: Aber schon richtig. Ich sage immer, wenn schon Bilder, dann selber gemalte – und die hängt man sich feinerweise natürlich nicht an die eigenen Wände. Mal ´ne Frage: Haben Sie Kinder? Tipp von mir: Kinder können malen, dass man kaputtgeht. Das kann man sich jederzeit an die Wand hängen, ohne rot zu werden…"

weiterlesen...

Männlichkeiten – Das Ende der Eindeutigkeit?

Galerie der Männlichkeiten

September 2022

Dieser Text bezieht sich auf subjektive Wahrnehmungen und Beobachtungen aus der Alltagswelt der Geschlechter. Er kann als ontologischer Erfahrungsbericht eines Mannes gelesen werden, der das "alltägliche Spiel" zwischen Männern, Frauen und anderen Identitäten mit dem Blick eines promovierten "Genderexperten" erlebt. Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt bildet meine Studie aus dem Jahr 2003, die ich jüngst wieder gelesen habe. Im Sinne einer reflexiven Herangehensweise stelle ich Überlegungen an, inwieweit mein theoretischer Ansatz und seine Begründungszusammenhänge noch Bezüge zur gegenwärtigen Alltagswelt der Geschlechter herstellen können. Im Vordergrund stehen Aspekte von Männlichkeit, wie sie sich in unserer Gesellschaft zeigen; deswegen verwende ich - angelehnt an Robert W. Connell - auch an einigen Stellen den Plural. Wenn von Männlichkeiten die Rede ist, befinden wir uns in einer Galerie, in der verschiedene und vielfältige Bilder von Männlichkeit und Mann-Sein ausgestellt sind weiterlesen...

Männlichkeiten im Rampenlicht der Existenz

Juni 2022

Prolog – Galerie der Männlichkeiten
Dieser Text bezieht sich auf subjektive Wahrnehmungen und Beobachtungen aus der Alltagswelt der Geschlechter. Er kann als ontologischer Erfahrungsbericht eines Mannes gelesen werden, der das „alltägliche Spiel“ zwischen Männern, Frauen und anderen Identitäten mit dem Blick eines promovierten „Genderexperten“ erlebt. Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt bildet meine Studie1 aus dem Jahr 2003, die ich jüngst wieder gelesen habe. Im Sinne einer reflexiven Herangehensweise stelle ich Überlegungen an, inwieweit mein theoretischer Ansatz und seine Begründungszusammenhänge noch Bezüge zur gegenwärtigen Alltagswelt der Geschlechter herstellen können. Im Vordergrund stehen Aspekte von Männlichkeit, wie sie sich in unserer Gesellschaft zeigen; deswegen verwende ich - angelehnt an Robert. W. Connell – auch an einigen Stellen den Plural. Wenn von Männlichkeiten die Rede ist, befinden wir uns in einer Galerie, in der verschiedene und vielfältige Bilder von Männlichkeit und Mann-Sein ausgestellt sind.
In der Gender-Forschung unterwegs zu sein, hieß vor 25 Jahren, sich einerseits in eine demokratisch-emanzipatorische Wissenschaftsarena zu begeben und sich andererseits mit einer vermeintlichen Aufgeschlossenheit des wissenschaftlichen Personals auseinandersetzen zu müssen. Die Reise zog sich durch die Untiefen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung über die Meerenge der gesellschaftlich konstruierten Mann-Frau-Dichotomie bis hin zur Inselgruppe der Spezialthemen - wie etwa den hegemonialen Männlichkeitsattributen in der literarischen Moderne. Schon damals ging es im Grunde um ontologische Fragestellungen, die aber - anstatt sie zu vertiefen - auf Abgrenzungs- und Umdeutungsdebatten verlagert wurden. Frauen argumentierten aus der feministischen Perspektive und saßen in den Seminarräumen meist verständnisvoll nickenden Männern, die sich zwar gegen das herrschende Männerbild sträubten, aber keine eigene Position vertraten und die Geschlechterkampfrhetorik widerspruchslos über sich ergehen ließen, gegenüber. Dass dieser verpasste Schlagabtausch eher zu phänomenologischen Verstrickungen als zu einem offenen Diskurs führte, wundert im Nachhinein nicht. Den Fehdehandschuh, den Professoren und Seminaristen hingeworfen bekamen, betrachteten sie lieber aus einer verkopften Distanz. Sich als Person zu zeigen wurde tunlichst vermieden, denn der Gefahr, in irgendeine der unvermeidlichen Schubladen verfrachtet zu werden, wollte sich kaum jemand aussetzen. Eine klare Forderung der Frauen, die auch zur besseren Verständigung beitragen hätte können, hat jüngst Karin Howard, eine Feministin der ersten Stunde, geliefert: „So viel Unabhängigkeit wie möglich. Ein Beruf, der sie interessiert. Dass sie dafür genauso gut bezahlt werden wie Männer. Und dass die Gewalt aufhört.“ weiterlesen...

Annäherung an den Raum

Oktober 2020

Raumbezug als Weltbezug

Vorbemerkung
Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen vertreten schon länger die Auffassung, dass der Anteil des Selbstverständlichen in unserer Gesellschaft sinkt und der Anteil der Irritationen steigt, sowohl in der Lebenswelt der Individuen als auch in der Gesamtgesellschaft. Und es wird wohl immer schwieriger, die heutige Gesellschaft – sozial-wissenschaftlich betrachtet – in ihrer Komplexität abzubilden. Das ist aber auch kein Wunder, denn am Anfang der abendländischen Tradition stand bekanntlich das Paradies, und angesichts derart exzellenter Startbedingungen konnte es eigentlich nur noch abwärts gehen. Nachdem die alten Ordnungsgefüge weggefegt wurden, so Charles Taylor, „ist der Spielraum der instrumentellen Vernunft zweifellos sehr viel größer geworden. Seit die Gesellschaft keine geheiligte Struktur mehr besitzt und seit die gesellschaftlichen Einrichtungen und Handlungsweisen nicht mehr in die Ordnung der Dinge oder im Willen Gottes gründen, sind sie in gewissem Sinne frei verfügbar geworden.“ Wenn ich heute Raum- und Weltbezüge als philosophische und sozialwissenschaftliche Kategorien aufgreife, geht das aus meiner Sicht nicht ohne Rückbindung auf die Tiefenstrukturen sozialer Agreements und nicht ohne Sichtbarmachen von Phänomenen, die sich in unserer Gesellschaft mehr oder weniger zeigen. Wir könnten etwa fragen: Sind unterschiedliche Angstphänomene einander so ähnlich, dass sie sich zu einem prägenden Gesellschaftsbefund verdichten lassen? Oder: Brauchen wir nicht eine klare Differenzierung zwischen ereignishaften und strukturellen Krisen, um sie besser bewältigen zu können? Wenn jemand sagt, „man traut sich ja fast nicht mehr auf die Straße“, dann berührt diese Aussage sowohl sozialräumliche als auch Aspekte, die den Bezug zur Lebenswelt und zur Gesellschaft betreffen. Wir haben es ja in den vergangenen Monaten dieses Jahres gesehen wie sich subjektive Stimmungen und kollektive Instinkte im Wechselspiel zueinander verhalten und was sie auszulösen in der Lage sind.
Raumbezug und Weltbezug stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander, sie sind Gegenspieler, aber auch wechselseitig aufeinander bezogen. Diese beiden Kategorien tauchen schon seit geraumer Zeit in der Sozialarbeit in etwas veränderter Begrifflichkeit auf. Als Lebensweltorientierung und Sozialraumorientierung. weiterlesen...

System und Grenze

September 2016

Systemtheoretische Zugänge zur Praxisreflexion

Vorbemerkung: Zum Begriff der Grenze
Was ist eine Grenze? Ich versuche, diesen Ausdruck existenzphilosophisch herzuleiten. Menschliche Existenz ist eine Form des In-der-Welt-Seins, die durch zeitliche und räumliche Anwesenheit bestimmt ist. Wenn uns die Existenz angeht, wir also existenzielle Erfahrungen machen, dann reden wir auch von Grenzerfahrungen. Dazu zählen wir insbesondere die Gefahr, das Leiden, die Schuld, die schwere Krankheit, den Tod - bei Sartre den Ekel -, oder auch die Rettung, das Wie-neu-geboren-sein, das Glück, die Geburt oder die Liebe. Grenzerfahrungen sind in erster Linie existenzielle Erfahrungen, die uns zeigen, dass wir da sind, sie manifestieren also unser Da-Sein. In diesem Sinne geht es immer um das Äußerste, ein Gewahrwerden oder auch um Überspringen einer Grenze, es ist ein letztes In-Frage-stellen. Bei Grenzerfahrungen in existenzieller Hinsicht wird uns die Chance zugespielt, zu begreifen, dass unser Da-Sein einer Endlichkeit unterliegt, dass innerhalb einer Stunde oder gar einer Sekunde alles vorbei sein kann. Das Nichts (als existenzialistischer Gegenpol des Etwas) geht wie ein unsichtbarer Schatten neben uns her. Beim Begreifen oder Gewahrwerden der Tatsache, dass unsere Existenz Grenzen hat, sind wir bei der Reflexion unseres Da-Seins und denken (vielleicht!) über unsere Lebenssituation bzw. über unser Leben an sich nach. Also kann man sagen, dass Grenzerfahrungen uns zum Nachdenken bringen (können), weil wir an die Ränder unserer Existenz, an die Grenzen unserer Möglichkeiten gestoßen sind oder gebracht wurden.weiterlesen...

Kinderreiche Familien – Reich sein durch Kinder?

November 2012

Einführung in den zweiten Reutlinger Lebenslagenbericht

Vor einer Reutlinger Schule drängeln sich mehrere Autos, die kurz anhalten und dann ein oder zwei Kinder ausspucken. Auch der 10-jährige Tom wird jeden Morgen von seiner Mutter in einem Großraumfahrzeug mit getönten Scheiben zur Schule gefahren. Das Fahrzeug ist locker auf sechs Insassen ausgelegt, aber Tom ist ein Einzelkind und seine Mutter ist seine Chauffeurin. Nach der Schule holt sie ihn ab und fährt dann mit ihm nach Hause. Oft fährt sie ihn am Nachmittag noch zum Gitarrenunterricht, zum Fechten, zur Nachhilfe oder zu Freunden. Tom könnte auch mit dem Bus oder Fahrrad zur Schule oder zu Freunden kommen, aber seine Mutter – eine Helicopter-Mutter – fährt ihn aus Sicherheitsgründen (wie sie zu sagen pflegt) lieber in dem gepanzerten Familienauto spazieren. Seinen Vater sieht er oft nur am Wochenende, denn der ist Geschäftsmann, hat das große Auto angeschafft und Toms Name auf die Heckscheibe geklebt. In Toms Klasse ist auch Julian. Julian hat sechs Geschwister, zwei davon besuchen dieselbe Schule. Morgens geht er gemeinsam mit ihnen los und im Sommer darf er mit dem Fahrrad zur Schule. Seine Eltern haben auch ein großes Auto, aber es ist viel älter als das von Toms Eltern. Es ist ein VW-Bus, den sein Vater manchmal als Holztransporter benutzt. Wenn Julian mal krank ist, gibt eines seiner Geschwister die Entschuldigung beim Klassenlehrer für ihn ab. Dieses Szenario deutet auf zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten hin. Tom ist Einzelkind, sein Mitschüler Julian kommt aus einer kinderreichen Familie. Und wir sagen das einfach so: „Kinderreiche Familie“ - reich sein durch Kinder? weiterlesen...

Disziplin und Verantwortung

Oktober 2009

Aspekte zum pädagogischen Alltag in Einrichtungen der Erziehungshilfe

Einleitung

In meinem Vortrag möchte aus soziologischer Perspektive auf aktuelle Fragen der Heimerziehung eingehen. Davon ausgehend, dass im Rahmen von Erziehungshilfen pädagogische Überlegungen mit gesellschaftlichen Entwicklungen korrespondieren, möchte ich die Schlüsselbegriffe ´Disziplin´ und ´Verantwortung´ genauer beleuchten. Gerade der Begriff Disziplin hat bekanntlich im Jahr 2006 durch Bernhard Buebs populistisches Buch „Lob der Disziplin“ innerhalb und außerhalb der pädagogischen Fachwelt für Diskussionsstoff und zudem – nicht zuletzt der medialen Aufbereitung wegen - für nicht wenig Verwirrung in der Fachwelt und bei Erziehenden gesorgt.
Dabei ist der Begriff Verantwortung als ethisches Prinzip des zwischenmenschlichen Handelns, der einen wesentlichen und zentralen Bezugspunkt im erzieherischen Prozess darstellt, eher vernachlässigt worden.
Die Debatte um Buebs Streitschrift, die ich heute noch einmal aufgreife, war ja nicht der erste Versuch, in der Tradition der Aufklärung stehende Erziehungswissenschaftler/-innen aus ihrem selbstreferentiellen Bezugssystem herauszulocken: 1978 veröffentlichte das im damaligen Wissenschaftsverständnis konservative Bonner Forum 10 Thesen unter dem Sammelbegriff ´Mut zur Erziehung´. Die progressivere Erziehungswissenschaft reagierte darauf mit entschlossenen Gegenthesen.
Die pädagogisch-politische Gegenrede zu Buebs ´Lob der Disziplin´ finden Sie in der von Micha Brumlik herausgegebenen Textsammlung ´Vom Missbrauch der Disziplin´. Sie ist 2007 erschienen und stellt eine interdisziplinäre Kritik an Buebs erzieherischen Vorstellungen dar. weiterlesen...

Widersprechen sich Flexibilität und Kontinuität?

November 2008

Thesen zu einer fachlichen Entwicklung im Bereich der ambulanten „flexiblen“
Erziehungshilfe


„Das Leben ist schön, aber unsicher“ – stellte der Journalist Egon Erwin Kisch wahrscheinlich nicht ohne Selbstironie fest. Und weil wir uns hier im Kleinkunstkeller befinden, erlaube ich mir dieses sicherlich ernste und wichtige Thema auf dem Hintergrund der Jugendhilfe etwas lockerer aufzumachen. Denn „Flexible Hilfen“ auf der Grundlage von § 27 ff SGB VIII sind gemessen an einer grassierenden Form gesellschaftlicher Kurzlebigkeit, von Befristungsfetischismus und Wechsellust - wie das etwa bei Arbeitsverhältnissen (sog. Jobs), Handyverträgen, Automarken, Modeboutiquen oder auch Eheschließungen beobachtet werden kann –  in dieser Region mit ca. zehn Jahren schon wieder relativ lange im praktischen Handeln verortet. Verdächtig lange sogar, weil sie die übliche  Halbwertszeit von zwei bis drei „Projektjahren“ beträchtlich übersteigen. Lange auch deshalb, weil es an anderen Orten, die sich mit ähnlicher Zielsetzung auf den Weg gemacht haben, eben schon wieder rückwärts geht und Worte wie Beteiligung, Sozialraumorientierung oder Ressourcencheck so langsam wieder aus dem Vokabular verschwinden. weiterlesen...

Dissertation

Sind Sozialpädagogen „neue“ Männer?
Konstruktion von Männlichkeit im Feld Sozialer Arbeit

In meiner Dissertation geht es um Motive, die Männer bei der Entscheidung für einen sozialen Beruf leiten und darum, wie sie in diesem Berufsbereich ihre Existenz und Lebenspraxis als Mann erleben und gestalten.

Motiv und Methode

Juli 2003

Konstruktion von Männlichkeit im Feld sozialer Arbeit

Der Titel meiner Dissertation Sind Sozialpädagogen „neue“ Männer? - Konstruktion von Männlichkeit im Feld Sozialer Arbeit kündigt an, um welche Zielgruppe es in dieser Arbeit geht, nämlich um Sozialpädagogen. Der Titel deutet auf einen Prozess hin, der als Konstruktionszusammenhang der „männlichen Männlichkeit“ im Feld Sozialer Arbeit begriffen werden kann. Ich greife in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob Sozial-pädagogen als „neue“ Männer im Horizont der postmodernen Geschlechterdynamik erscheinen und gehe dabei mit sozialwissenschaftlichen Mitteln auf Antwortsuche. Die Rede ist von so genannten individualisierten, flexibilisierten und modernisierten Lebenslagen, von Bastelbiographien, von Selbsttechnologien, von der Modellierung des Körpers und des Selbstentwurfs; aber auch von tiefgreifenden Einschnitten in traditionell gewachsene Lebensentwürfe für Männer und Frauen mit und ohne Familien, von Verschiebungen im Geschlechterverhältnis, von Veränderungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Lebensführung. Oder auch von der Neuorganisation der Beschäftigungsverhältnisse bis hin zur Stilisierung neuer Rollenerwartungen, die einerseits vom wachsenden Selbstbewusstsein Karriere fixierter und auf eigenen Füßen stehenden Frauen berichten und andererseits eine in die Krise geratene Männerwelt ausmalen, deren patriarchalische Domänen bedroht seien und die deshalb ihre an gestammten Territorien mit zunehmender Muskelmasse und einem ständig verfügbaren Testosteron-Vorrat verteidigen würden. Zu sehen, zu hören und zu lesen sind diese Eindrücke zum Beispiel auf dem prosperierenden Markt von Männer- und Frauenmagazinen, Werbespots oder exhibitionistischen Plakaten im öffentlichen Raum.weiterlesen...

Nach oben

Philosophisches

Der Philosoph Walter Benjamin – Passage als Existenzerfahrung

April 2021

Raumgewordene Vergangenheit
1980 war ich mit einem Freund unterwegs nach Cadaquez. Wir hielten unmittelbar nach dem Übertritt der französisch-spanischen Grenze oberhalb Portbou an und parkten hinter einer Tankstelle mit rostigen Zapfsäulen und gesprungenen Fensterscheiben. Sie passte in die schroffe Landschaft und sah aus als wäre sie stillgelegt wie die Schrottfahrzeuge ringsherum. Diese katalonische Grenzsituation an einem mediterranen Frühjahrsabend war meine erste Begegnung mit dem Philosophen Walter Benjamin, der sich 1940 in Portbou im Alter von 48 Jahren unter dem Joch der Verfolgung das Leben nahm. weiterlesen...

Mein Quarantäne-Fragment

Juni 2020

Für philosophisch tätige Artgenossen ist ein Quarantäne-Modus nichts Ungewöhnliches.
Oft selbst gewählt, ordnet diese Spezies darin ihre Gedanken bevor sie frei gelassen werden.
Aus dieser Perspektive habe ich vor drei Monaten geschrieben: „Schaltet mal einen
Gang zurück. Keep in low gear.“ Es war die Rede davon, dass in unserer Republik nicht
nur der Einzelne, sondern gleich die ganze Gesellschaft heruntergefahren wird wie ein
Atomkraftwerk vor der Stilllegung. Was hat sich in der Zwischenzeit gezeigt? weiterlesen...

Corona schafft Platz für Denkräume (erschienen im Reutlinger GEA)

Mai 2020

GEA-Interview vom 30. Mai 2020

Artikel lesen...

Ist DA was?

Falls das Video nicht angezeigt wird:

https://youtu.be/cZAwIZ2TpHM

Ontos beste Bohne

Oktober 2018

Anmerkungen zur Phänomenologie des Alltags
Die hier ausgeführten Gedanken beziehen sich auf eine im September 2017 gehaltene Einführungsrede im Rahmen der Ausstellung „Schrecklich Normal“. Es handelt sich um erweiterte Überlegungen zur Phänomenologie des Alltags mit seinen „normalen“ Erscheinungsformen bis hin zu seinen „Erscheinungsschrecken“. Damit spiele ich auf die phänomenologische Kompetenz an, die Menschen aufweisen, wenn sie Erscheinungen aus dem täglichen Leben zu deuten und einzuordnen versuchen. Sind es doch die Deutungszusammenhänge, die wesentlich für den ontologischen Topos und den Selbstbezug im sozialen Beziehungsgefüge sind. Es scheint ein existenzielles Bedürfnis zu sein, Vorgänge und Ereignisse im Sinne einer Selbstauslegung in den Lebenszusammenhang einzuordnen, weil dieses mit den jeweiligen Ordnungsvorstellungen und der eigenen Verortung in der Lebenswelt korrespondiert. Es geht hierbei um die Empfänglichkeit für Phänomene, die dem Individuum signalisieren, dass es ein Bewusstsein für seine Sinn- und Lebenszusammenhänge entwickeln kann: Eine bewusste Empfänglichkeit für das Sein und die Zeitlichkeit der Existenz, der lebensweltlichen Anwesenheit. Menschen sind als Anwesende gleichzeitig Vermittler zwischen sich und ihrer Welt: Sie wollen gesehen und gehört – wahrgenommen – werden. Wer in unserer Gesellschaft nicht wahrgenommen wird, scheint nicht zu existieren. Gerade in der digitalen Welt ist das Sich-zeigen, das persönliche Profil und die gesamte Selbstdarstellungsindustrie für viele ein Muss, um sich in den so genannten sozialen Medien zu behaupten. Was aber, wenn sich Menschen aus diesen Netzwerken ausklinken?

Das Bedürfnis nach Normalität und Stabilität und die in der Umwelt lauernde Unmittelbarkeit von Ereignissen befindet sich in ständigem Ringen um ein Gleichgewicht, das zwischen Individuen und der Welt aber nicht ohne Weiteres hergestellt werden kann. Menschen agieren und reagieren nicht synchron - ihr Denken,  ihre Aufmerksamkeit, ihr Reflexions- oder Kontrollvermögen ist nicht immer im Lot. Die Fähigkeit der Vermittlung zwischen dem individuellen Befinden und den gesellschaftlichen Vorgängen wird auf die Probe gestellt, denn das Vermittelte muss in den Bewusstseinszusammenhang eingeordnet werden. Das heißt, Individuen setzen ihre bewusst gewordenen Inhalte als Setzende selber. Sie sind also nicht der Inhalt, sondern dessen Setzer. Der phänomenologische Zugang soll hier die Bewusstseinsinhalte möglichst frei von Vorannahmen und Vorurteile betrachten. Dieser befasst sich mit Auswirkungen von Phänomenen auf das Bewusstsein. Das ist aber kein einfaches Unterfangen, weil der Mensch - wie noch gezeigt werden soll - durch Bewusstseinsinhalte immer auf etwas bezogen oder gerichtet ist: Intentionalität ist als Bewusstsein zu fassen und steuert die Wahrnehmung (verstanden als Apperzeption) lebensweltlicher Vorgänge, sie wird verstärkt durch unser Handeln, unsere Sprache. Der Radar ist ausgerichtet auf das lebensweltliche Geschehen. Der Begriff der Intentionalität stammt aus der Phänomenologie Husserls, der neben Kierkegaard und Heidegger maßgebend für das phänomenologische Denken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts war. weiterlesen...

Weltbezug und Entfremdung

Übergang 2017/2018

Weltbezug und Weltbeziehung
Diesmal stelle ich mir zwischen den Jahren die Frage nach dem Weltbezug. Gerade jetzt, wo das Resümieren Hochkonjunktur hat und jede/r über die Weihnachtszeit zur Besinnung kommen möchte und möglicherweise mit der Evakuierung oder Entrümpelung des Innenlebens begonnen hat, damit sie oder er etwas aufgeräumter ins neue Jahr hinüber gleitet, könnte das doch ein guter Zeitpunkt sein. Den Begriff des Weltbezuges habe ich im Oktober bei einem Vortrag im Zusammenhang mit einer sozialphilosophischen Zeitdiagnose aufgegriffen. Ich fragte danach, welche Fragen in unserer Zeit aufgeworfen werden und was wir meinen, wenn wir von unserer Zeit reden? Also: Was passiert derzeit mit uns? Wie ist unsere Reaktion und Resonanz auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen? Was nehmen wir auf und was geschieht um uns herum? Welche Erklärungen haben wir dafür? Dabei habe ich nicht nur die politische Großwetterlage sondern auch die Mikrowelten des Alltags vor Augen. Vielleicht können wir so Erkenntnisse über unser Dasein und unsere Verortung in unterschiedlichen sozialen Beziehungsgefügen erlangen.

Wenn es um das Verhältnis und den Bezug des Menschen zur Welt geht, müssen wir über unsere Existenz nachdenken. Dabei bin ich in der Diskussion mit anderen Nachdenkern aber auch auf den Aspekt der Weltentfremdung getroffen. Dieser Beitrag befasst sich zunächst mit Aspekten des Weltbezuges und der Weltbeziehung. Vom existenzialistischen Standpunkt aus gedacht sind wir in die Welt gestellte oder geworfene Individuen, die eine gewisse Lebenszeit auf dem blauen Planeten verbringen und dann wieder verschwinden. Die Erde ist unser Einwanderungsland, aber auch unsere letzte Welt. weiterlesen...

Mythos und Wahrheit

Dezember 2016

Einleitung
Vor 20 Jahren erschien im Feuilleton in „Die Zeit“ ein Essay des New Yorker Philosophen Paul Boghossian  mit der Überschrift „Sokals Jux“. Es ging im Kern darum, wie es in der Postmoderne um die Begriffe Wahrheit und Objektivität bestellt sei. Anlass für diesen Essay war ein wissenschaftlicher Streich, den Alan Sokal seiner Zunft gespielt und diese mit steilen Hypothesen zum Wahrheits-Begriff an der Nase herumgeführt hatte. Er soll längst anerkannte, „objektive“ Wahrheiten der theoretischen Physik ad absurdum geführt haben. „Die Zeit“ leitete Boghossians Beitrag mit folgenden Worten ein: „Sokals  Forderung: Die Naturwissenschaft müsse sich vom alten Objektivitätsdenken verabschieden, nur eine kulturell interpretierte Theorie diene der gesellschaftlichen „Emanzipation“... und die Naturgesetze seien die Erfindung toter weißer Männer und Euklids Zahl Pi keine feste Größe.“ Dass anscheinend eine ganze Zunft renommierter Theoretiker auf Sokals neue Theorie ohne kritische Überprüfung der Fakten hereingefallen war, verweist darauf, wie anfällig Wissenschaftler für „neue Erkenntnisse“ sein können und wie rasch sie anscheinend deren Akzeptanz finden. Vielleicht wird in manchen Wissenschaftsbereichen über die eigenen Ausgangsbedingungen zu wenig nachgedacht. Eine gute Einflugschneise für die Mythenbildung.weiterlesen...

Ohne Orte gibt es kein Unterwegs

Juni 2016

Einleitung
Wenn wir von Unterwegs-Sein sprechen, meinen wir oft die Abwesenheit von unserem ”festen” und vertrauten Standort, von unserer Adresse oder unserem Wohnsitz. Wir assoziieren mit diesem Ausdruck auch, dass sich jemand (gerade) auf einer Reise befindet und gehen davon aus, dass sie oder er wieder an seinen gewohnten Standort zurückkehrt. In der deutschen oder mitteleuropäischen Lebenskultur wird die Sesshaftigkeit nach wie vor als plurale Lebensform praktiziert. Auch wenn sich die Formen des Unterwegs-Seins – privat und beruflich – grundlegend geändert haben. Unterwegs-Sein heißt mobil sein. Hier geht es weniger darum, Phänomene der Mobilität zu behandeln, meine Überlegungen beziehen sich stärker auf die philosophische Hintergrundmusik des Unterwegs-Seins. Mich interessiert der Sound philosophischer Grundfragen, wenn wir uns mit dem Unterwegs-Sein beschäftigen: Wo komme ich her? Wo möchte ich hin? Was erwarte ich? Was erwartet mich? Unterwegs-Sein wird (populäres Beispiel Jakobsweg) häufig mit Selbsterfahrung in Verbindung gebracht. Viele Wanderer und Pilger gehen davon aus, dass sie sich im Unterwegs-Sein und in anderen Landschaften oder Gegend anders erleben und anders – vielleicht sogar besser! – kennen lernen. weiterlesen...

Zur Topographie des Denkens – Anmerkungen zu Hannah Arendt

August 2015

Im Jahr 2014 drehte sich der philosophische Diskurs in der Neske-Bibliothek Pfullingen um Leben und Werk der Philosophin Hannah Arendt (1906-1975). Auch heute noch, 40 Jahre nach ihrem Tod, ist die deutsch-jüdische Weltbürgerin nicht nur wegen ihres aktiven Eingreifens in die Politik der Faschismus-Aufarbeitung aktuell, sondern auch als herausragende Vertreterin der Politischen Theorie. Eine empathische Annährung an die Person Arendt und ihre Zeit war der Film von Margarethe von Trotta „Hannah Arendt“ mit Barbara Sukowa in der Rolle der couragierten Schriftstellerin. Arendts Schriften zur Gewalt und ihre Rolle in Geschichte und Politik können z. B. entscheidende Impulse liefern, gegenwärtige geopolitische Ereignisse und Entwicklungen, die die Dynamik der Gewalt immer unbegreiflicher, und die Dimension der Verantwortung für den Terror immer undurchschaubarer erscheinen lassen, besser zu begreifen. So werden hier ein paar Gedanken zusammengeführt, die sich in der Form eines Manuskriptes – aus der Sicht der „alltäglichen Erscheinungswelt“ (Arendt) – um die von ihr gestellte Frage bemühen:

„Wo sind wir, wenn wir denken?“
weiterlesen...

Das Prinzip der Sorge als Modus der Männlichkeit

Juli 2014

„Nun, zum Beispiel, was es heißt, ein Mann zu sein. In einer Stadt. In einem Jahrhundert. Im Übergang. In der Masse.“

Einleitung
Was heißt es, als Mann Sorge zu tragen? In welchem Modus befinden sich Männer, wenn sie sorgen? Was heißt es, ein Mann zu sein im Bereich der Sozialen Arbeit? Diesen Fragen werden im folgenden Beitrag Raum gegeben. Es geht dabei in erster Linie um den fundamentalen Aspekt der Sorge (was), weniger um methodische Ansätze (wie). Es geht um Männer als Sorgende in der Erziehung.

Die Gewichtung bzw. Verteilung weiblicher und männlicher Fähigkeiten und Kompetenzen im Bereich der Alltagssorge fällt oberflächlich betrachtet zugunsten der Frauen aus. Es handelt sich hierbei um ein Oberflächenphänomen: Viele denken, dass in unserer Gesellschaft die sozialen Anteile des Versorgens größtenteils von Frauen erbracht werden bzw. die öffentliche Meinung diesen Part nach wie vor in der praktischen Verantwortung der Frauen sieht. Nicht nur in den sozialen Berufsfeldern (wie Alten- Kinder und Krankenpflege), auch in Ausbildungs- und Studiengängen an Fach- und Hochschulen sind Frauen durchgehend mit einer klaren Mehrheit vertreten. Eltern- und Erziehungszeiten werden überwiegend immer noch von Müttern erbracht.

Obschon es im vergangenen Jahrzehnt deutliche Verschiebungen und Überlagerungen in der Ausgestaltung des Erwerbslebens bei Frauen mit unmittelbaren Auswirkungen auf berufliche Dispositionen für Männer gegeben hat, besteht scheinbar die Dichotomie bei der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von Mann und Frau fort. Viele Frauen erledigen trotz ihrer Berufstätigkeit auch die Hausarbeit. Das heißt allerdings nicht, dass sich Männer aus den Reproduktionstätigkeiten in Haus und Hof ausklinken. Im Gegenteil: Männer übernehmen zunehmend – ob berufstätig oder nicht – Hausarbeit und sorgen im Alltag für ihre Kinder. Deshalb nur von einseitigen Verschiebungen für Frauen zu reden, würde die Fakten, die Männer im Bereich des Be- und Fürsorgens schaffen, verdecken. Es geht gerade um das Gegenteil: Bei der männlichen Fähigkeit zur Sorge scheint es sich eher um ein Alltagsphänomen zu handeln, das nicht wirklich sichtbar werden darf. Würde es das, wäre das Haltbarkeitsdatum finaler Zuschreibungen, wie z.B. „Männer können nicht pflegen“, endgültig abgelaufen. Frauen werden stärker in der Erziehung „gesehen“ als Männer. Liegt es daran, dass Männer sich dort zu wenig zeigen und positionieren? Es gilt als ein Grundphänomen des Daseins, dass Männer Sorge tragen und diese existenzielle Aufgabe als Selbstverständlichkeit auffassen und weniger als das, was sie wesentlich sein will: eine Ressource, auf die unser Leben aufbaut und auf die wir immer wieder zurückfallen. Wer für sich sorgt, erschließt sein Dasein: „Die Erschlossenheit ist eine wesenhafte Seinsart des Daseins.“
weiterlesen...

Die Erfahrung der Wirksamkeit

Mai 2012

Erfahrungswissen als Aspekt von Wirksamkeit

„Wirken kann nur etwas, was erstens selbst ein Vorhandenes und zweitens stärker als das zu Bewirkende ist“ (Walter Schulz)

Einleitung - Wem nutzt Wirkungsorientierung wirklich?
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Kategorien Wirksamkeit, Wissen und Erfahrung und fordert dazu auf, Erfahrungswissen auf den Bühnen der Alltags- und Praxiserfahrung stärker als Ressource bei wirkungsorientierten Prozessen in den Blick zu nehmen. Ausgehend von der Wirkungsdebatte in der Jugendhilfe werden Wirkungsperspektiven thematisiert, die mit Aspekten des Erfahrungswissens kombiniert und auf ihre Belastbarkeit hin überprüft werden. Zur Veranschaulichung enthält er ein Praxisbeispiel zum angewandten Erfahrungswissen einer interdisziplinären Expertengruppe aus Wissenschaft und praktischer Sozialarbeit. weiterlesen...

Nach oben

Logbücher

Tianxia

Dezember 2023

Paul Hunger lag auf seiner Koje und befand sich auf einer Fähre Richtung Island. Diese hatte eben die Faröer Inseln in einem milden Abendsonnenlicht verlassen, das auf dem Wasser tanzte. Er dachte an sein jüngstes Enkelkind. Mit Sinah hatte er vor seiner Reise viel Zeit verbracht. Das Mädchen strahlte eine verwurzelte Gelassenheit aus, die Hunger genoss und die er manchmal selbst gerne gehabt hätte. Sinah zeigte Hunger ihre Welt der Spielplätze, der Kindertagesbetreuung und ihre kreativen Interessen im Gebiet zwischen der Münchner Freiheit und dem Englischen Garten. Als sie gerade mal 15 Monate war, wurde nuklearer Sprengstoff über Kiew abgeworfen. Auf einer der Großbildschirme am Münchner Hauptbahnhof sah er sogenannte Satellitenbilder, die ähnlich grotesk wirkten wie jene vom 11. September 2001. Viele hielten diese Bilder für Fake News. Denn die Welt der Phantasie hatte einen Grad erreicht, bei dem viele Menschen den Unterschied zwischen News und Fake News, zwischen Fakt und Fake, nicht mehr erkannten. Die Phantasie von unzähligen Menschen war geradezu von Fakes vergiftet. Der eigenen Einbildungskraft konnte, so sah es jedenfalls Hunger, nicht mehr vertraut werden. Mit Mitteln der Künstlichen Intelligenz war es möglich geworden, Szenarien und Videos zu produzieren, die eine Unterscheidung vom „Original“ mit bloßem Auge unmöglich machten. Es gab Videos von Bombenanschlägen oder Hinrichtungen, die nicht nur Hunger in die Rolle eines Blade Runners, der sogenannte Replikanten entlarven musste, versetzten. Viele Menschen wurden zum Spielball einer Art bildgebender Verfahren, deren Eigenleben und künstliche Realität sie nicht als solche erfassen konnten. Sind wir überhaupt noch in der Lage, eigene Bilder zu produzieren und zusammenzusetzen oder werden diese Bilder uns von außen zugespielt, damit wir denken, es wären unsere eigenen? Verfügen wir über imaginative Energien, mit denen unser Gehirn selbst gebaute Bilder visualisieren kann? Bei Sinah konnte er just eine kindliche Begabung erkennen, weil die Sehrinde ihres jungen Gehirns authentische Bilder zur Verfügung stellen konnte, die sie vor sich sehen und mit Wachsmalkreiden zu Papier bringen oder mit Knet plastisch transferieren konnte. Als Hunger sich nach Island verabschiedete und ihr nochmal von der Straße aus zuwinkte, musste sie von Lola am Fenster getröstet werden, weil sie herzzerreißend weinte. Diese Szene war zweifellos echt. weiterlesen...

Quarantäne in Pfullingen

März 2020

Draußen schneit es. So wie es sich viele an Weihnachten gewünscht hätten. Es herrscht Endspielstimmung. Ein wenig Deutschland gegen Italien. Kaum Autos. Und ich denke, komm doch mal runter. Schalte mal einen Gang zurück. Keep in low gear. Lass mal gut sein. Gute Tipps und Ratschläge, mit denen wir uns sonst ständig gegenseitig auf die Nerven gehen. Und nun ist die Rede davon, dass nicht nur der Einzelne, sondern gleich die ganze Gesellschaft herunter gefahren wird. Super, endlich! Heruntergefahren wie ein Atomkraftwerk vor der Stilllegung? Als reflektierte Zeitgenossen wissen wir längst, dass die gut gemeinten Ratschläge im Alltags-Normalbetrieb einfach nicht funktionieren. Eine durchkapitalisierte Gesellschaft lässt sich nun mal nicht mit Klangschalen voller ganzheitlicher Entspannungstipps oder mit Buddhafiguren im Schlafzimmer herunterfahren. Dazu braucht es entweder eine radikale Veränderung der individuellen konsumfixierten Lebensweise, die sich in politisch gewollten Strukturveränderungen abbildet und die vom Staat durchgesetzt und von der „Willensbildung faktischer Mehrheiten“ (Manfred Frank) mitgetragen werden.  Das bedeutet, dass ökonomische Interessen in definierten Produktionsbereichen gesellschaftlich-ökologischen Interessen nachgeordnet sind. weiterlesen...

Tough Enough?

April 2018

Im Frühjahr eines Schaltjahres im 21. Jahrhundert kehrte ich zurück an den Ort meiner frühen Jugend und musste begreifen, warum Erinnerung und Erwachen eng miteinander verwandt sind. Denn fast ein ganzes Jahr wohnte ich in meinem Kopf. Meine Jugend verbrachte ich in einer ehemaligen Reichsstadt und deren Umland im Württembergischen. In meinem Personalausweis stand der Name Paul Hunger. Ich wollte, oder besser gesagt, musste neu anfangen. Aber was heißt schon neu anfangen? Die Umzugskartons auf eine Dreizimmer-Dachwohnung verteilt, nichts ausgepackt, der Großteil enthielt Bücher. Gut, meine alte Pavoni-Kaffeemaschine und ein paar Tassen, Teller, Gläser und Besteck waren das aus dem alten Leben gerettete Zeug. Es war Strandgut, das ich auf zwei zu einem Tisch zusammengestellten Kartons ausbreitete. Kann man ein Leben, für das man durch eine ozeanische Einsamkeit geschwommen ist, überhaupt neu anfangen? Ist es nicht einfach eine Fortsetzung des alten Lebens unter anderen Vorzeichen? Neuanfang hört sich an wie eine Wiedergeburt oder eine Wiederauferstehung weiterlesen...

Rennrad fahren

November 2015

Von meinem Freund, der mit Ende 50 das Rennrad fahren entdeckt und mit dem Rauchen
aufgehört hat, habe ich vor nicht allzu langer Zeit Europas Rennradmagazin Nr. 1 als
Geschenk-Abo bekommen. In einer Frühjahrsausgabe fand ich Trainings-Tipps wie Besser
Berge fahren und einen Tour-Check von leistungssteigernden Lebensmitteln für den Radsportler;
es wurden 17 Aero-Laufräder vorgestellt, 32 Trikots und Radhosen verglichen.
Außerdem wurde der achtmalige Weltmeister und Tour de France-Sieger von 2012, Bradley
Wiggins, porträtiert. Daneben wurden noch Korsika in sechs Etappen als mediterraner
Streckenbericht sowie ein Kurztrip Leipzig mit pittoresken Landschaftsaufnahmen aufbereitet.
Der regelmäßige Pass-Steckbrief führte den Leser diesmal über den Passo di San Boldo
(Venetien).
Das alles und noch viel mehr saugt die Radsportgemeinde Monat für Monat in sich auf
als wären es religiöse Losungen. Gerade der über sich hinauswachsende männliche Leser
dieser Zeitschrift darf sich deshalb zu einem Rennradfahrer-Orden zählen, dessen treue
und Technik-affine Athleten laut Umfrage im Schnitt 5.000 km im Jahr auf einem Sattel
verbringen, der schmaler ist als ein Melkschemel. Das muss man sich erst mal geben, sagt
der Sonntagsfahrer auf dem Hollandrad mit Elektromotor, dem ich an einem Samstag in
meinem Radsportgeschäft begegnet bin. weiterlesen...

Das erwähnte Radsportgeschäft ist übrigens "Renn- und Bikesport Axel Schäfer" in Lichtenstein-Unterhausen (www.rubs.de)

Der pädagogische Kongress

Mai 2013

Ich hätte es mir denken können. Jetzt stehe ich hier mit einer Tasse Kaffee und meinen Tagungsunterlagen, die auf den Namen Paul Hunger ausgestellt sind. Gegenüber vom Begrüßungsbankett ist es etwas ruhiger und ich habe einen guten Überblick. Rechts von mir ist die Garderobe mit Parkplätzen für Reisetaschen und Trolleys, die es nicht mehr in die Hotels geschafft haben. Die Wintermäntel und gefütterten Jacken absorbieren die Geräuschkulisse der Ankommenden. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand, verspüre nicht das geringste Bedürfnis nach Unterhaltung und bin froh, dass ich nicht angesprochen werde - dass mich noch keiner entdeckt hat, der mir seinen Text auspackt. Auch hier daddeln vielen an ihren Handys herum. Meine Befürchtung, dass die Fahrt im ICE von Stuttgart nach Berlin sich zu einer Kakophonie aus Klingeltönen und pubertärem Gelaber entwickelt, hatte sich nicht bestätigt. Ich konnte in Ruhe lesen und über das Konzert an Silvester und die Bitte von Juliane, sie nach Hause zu fahren, nachdenken. Anscheinend wollte sie den Spannungen zwischen Norbert und Jochen entkommen. Ich fragte nicht danach. Jedenfalls war ich angenehm überrascht über diese Bitte und fühlte mich an meine Zeit als Taxifahrer erinnert. Dort chauffierte ich öfter Frauen, die manchmal angetrunken waren und mir dann anzügliche Bemerkungen machten; die in ihren Handtaschen nach Zigaretten kramten und dann eine anzündeten. Danach fragten sie, ob sie rauchen dürften. Die meisten gingen offenbar von einem Ja aus. weiterlesen...

Cool Jazz

Oktober 2006

1957, als Miles Davis in Paris das Stück ´Au Bar du petit Bac´ aufnahm, war ich noch nicht existent. Und 1964, als Chet Baker ´I wish you love´ spielte, wusste ich noch nicht, was Jazz bedeutete. Da ich noch nicht lesen konnte, war es mir auch nicht möglich, das Wort ´Jazz´ auf dem großen Transistorradio zu entziffern, das seinen eigentlichen Platz im Wohnzimmer hatte, aber manchmal von meiner Mutter zur Unterhaltung für länger dauernde Hausarbeiten in die Küche getragen und dort in einer Nische aufgestellt wurde. Ich weiß auch nicht, ob ich die Stücke in meiner Kindheit gehört habe. Ich weiß nur, dass ich – als ich mich eingehender mit Jazz zu beschäftigen begann – spürte, wie mich diese Art von Musik auf gleichmäßigen und angenehm schaukelnden Wellen zurück in eine Zeit brachte, in der ich von einer behüteten Ahnungslosigkeit umgeben war.

In dem pietistisch überwölbten Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es scheinbar keinen Jazz, es gab höchstens „Katzenmusik“. Was nicht gespielt wurde in den Küchen und Wohnzimmern, war eben nicht vorhanden. Der Knopf „Jazz“ wurde einfach nicht gedrückt. Schlager gab es zuhauf oder so genannte Platzmusik des örtlichen Musikvereins, die zu bestimmten Festen im öffentlichen Raum zu hören war. Und doch sickert der Cool Jazz als besonderer Stil über die Gehörgänge in meinen Körper ein und gibt mir die Ruhe und Überschaubarkeit meiner kleinen Lebenswelt aus den 1960ern auf eine angenehme Weise zurück. Ohne mein Zutun sind die schmalen Straßen mit den einfachen Häusern und ihren symmetrischen Gemüsegärten wieder da. Auch die Nischen, Winkel, Zäune, Höfe, Abkürzungen, Plätze und Straßen, an denen ich mich aufhielt und die mein Koordinatensystem innerhalb eines nicht allzu ernsten, eher verspielten und weitgehend strukturierten Alltags darstellten. Die Welt war noch aufgeteilt in schwarz und weiß, links und rechts, Ost und West, gut und böse, arm und reich. Jazz war schwarz. Der Fernsehfußball war meine Welt und rollte jeden Tag über unsere Straße und durch unseren Garten. weiterlesen...

Prosciutto, Prosecco, Pro Sieben

Dezember 2005

Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass der Genuss des Leidens die Höhen der Lust übertreffen und alles Leiden aus Verlangen entstehen würde. Hierüber denke ich in meiner Festtagsstimmung zwischen den Jahren am Tresen des Oscars nach. Aus dem Verlangen wonach? Liebe? Heimat? Sicherheit? Neues Auto? Kein Zufall, dass mich das gerade kurz nach Weihnachten beschäftigt. Die Band, die heute Abend spielt, halte ich für die beste Cover-Band der Region. Die drei Musiker stehen immer montagabends auf der Bühne und füllen die schlauchartige Kneipe gegenüber der Bäckerei von 1903. Von der Bäckerei sagt man, dass sie die besten Brezeln in der Stadt bäckt. Neben dem Schaufenster hat jemand mit roter Farbe Completely Disordered gesprüht. Das Oscars war früher eine Kfz-Werkstatt. Statt Werkzeug und Ersatzteile an den Wänden, gibt es mehrere große Spiegel, die die Physiognomie von redebedürftigen After Workern bis zur Kenntlichkeit entstellen. Ich habe nicht weit dorthin, wohne hier im Sprengel. Meine Nachbarn sind Landschaftsarchitekten, Lehrer, Ärger-Therapeutinnen, Pädagogen, Beamtinnen und besser gestellte Rentnerpaare. Das Oscars ist überfüllt, viele sind etwas jünger als ich. Eigentlich finde ich die Kneipe gar nicht schlecht – bis auf den Namen. Mittlerweile ist es chic geworden, den Kneipen und Restaurants einen Vornamen zu verpassen: Ludwigs statt Schwarzer Adler, Alexandre statt Gasthof Hirsch, Oscars statt Roter Hahn, Taube, Löwen, Schwanen oder Rose. Die Zeit, dass man Dich im vermeintlich anonymen öffentlichen Raum, im Internet oder als Werbe-Zielobjekt mit Du oder mit dem Vornamen anspricht, hat längst begonnen. Bei Ikea etwa: Lass Dein Kind einfach in der Kinderwelt und spaziere in aller Ruhe durch unsere neue Lampenabteilung, danach genieße Kaffee und Kuchen in unserem skandinavischen Restaurant. Zusammen nur zwei Euro! Wenn Du keine Lust mehr hast, Dein Kind abzuholen, dann rufen wir das Jugendamt. Kein Problem für Dich! Auf der einen Seite ist die Welt gefährlicher geworden, auf der anderen Seite unverbindlicher. Und während ich in diese Feiertagsgesichter schaue, halte ich die Aussage, Leiden entstünde aus Verlangen, auch für ein hedonistisches Phänomen. Und dieses wird hier aufgeworfen wie ein Maulwurfshaufen. Mit dem Leiden Christi hat das jedenfalls nicht mehr viel zu tun! weiterlesen...

Die Sichel des Mondes

Mai 2003

Hunger saß auf der Terrasse, rauchte und trank Kaffee. Er konnte sehen wie sich das Winterlicht über dem bewaldeten Höhenzug am Horizont brach und der Nachmittag in den Abend hineinkippte. Der Westwind trieb atlantische Wolken vor sich her, die später Schnee bringen würden. Seine Söhne tobten im Garten und kickten einen Fußball ins braun gewordene Gebüsch. Auf seiner inneren Leinwand sah er einen Samstag im September 1966. Paul Hunger war einer von 70.000 Zuschauern im Stuttgarter Neckarstadion. Er stand mit seinem Vater in der Gegengerade und sah „seine“ Mannschaft. Nicht den VfB Stuttgart, nein, es war 1860 München. Die Spieler traten in den hellblauen Trikots und weißen Sporthosen an. Nur sein Liebling, der Torwart Petar Radenkovic, spielte in Schwarz und trug eine Schiebermütze gegen die blendende Sonne. Es war das erste Mal, dass Hunger unter so vielen Menschen war. Ununterbrochen tönten die Hupen und Fanfaren der Fans auf beiden Seiten. Und als Willi Entenmann in der 34. Minute das 1:0 für Stuttgart erzielte, ging ein ohrenbetäubender Torjubel über Hunger nieder. So als wären alle gegen ihn. Er war den Tränen nahe, denn er war auf der Seite der Meistermannschaft aus der letzten Saison. Das Meisterphoto hing über seinem Bett und er schwärmte für Küppers, Brunnenmeier, Rebele und Grosser. Und natürlich für Radi, der mit dem Ball am Fuß manchmal bis zur Mittellinie vorstieß und dann das Leder dem schnellen Küppers schickte. Radi, der in der Werbung als singender Torwart zu hören war, galt zusammen mit dem eloquenten Trainer, Max Merkel, als das Gesicht des Vereins. Es war die Zeit, die in Hunger war und das Wappen mit dem Löwen, und die Kraft, die von dem aufgerichteten Raubtier mit den ausgreifenden Tatzen ausging. Das machte ziemlichen Eindruck auf einen Jungen in seinem Alter. weiterlesen...

Schopi haut

September 2000

Worin besteht der Unterschied zwischen Willen und Wollen?...
Pfiff...Wer pfeift.........Wer pfeift? Schopenhauer pfeift seinem Pudel, der auf den Namen Diogenes hört und ein waschechter Kyniker ist. Deshalb benetzt er nun den Laternenpfahl einer schlecht beleuchteten Straße einer süddeutschen Großstadt, dessen flaches Licht die Häuserzeile fast erblinden läßt und an dem er später einen Zeithaufen ablegen wird. Gegenüber steht ein abgewracktes Haus, das einem Spekulanten gehört.

Dort wohnte ich, genannt Hunger. Es war eine Eineinhalb-zimmermitkücheundChloaußerhalbwohnung, und da sie sich im vierten Stock befand und ich Magister der Philosophie werden wollte, nannte ich sie meinen Elfenbeinwurm. weiterlesen...

Juni in Zürich

Juni 1998

Es beruht keineswegs auf einem Zufall, daß diese Aufzeichnung am Zürichsee ihren Anfang nimmt. Der Juni hat in dieser Stadt Einzug erhalten und der See hält dem Himmel den Spiegel vor. Was sich als Naturschauspiel gebärdet, ist metaphorisch betrachtet Zeiterleben unter der Lupe des am Seeufer sitzenden Betrachters. Vielleicht auch eine meditative Form geladener Geistesgegenwärtigkeit. Auf dem See kräuseln sich die Wellen und die Wolken spiegeln sich im See, luftige Spiegelungen, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. Die Wolken tauchen als bekannte aber doch ständig neu modellierte Gebilde wieder auf. Im Juni scheinen die Wolken auch hier ihre Hauptrolle zu spielen, nicht der wolkenlose Himmel zählt, wie ihn sich viele im Sommer wünschen, sondern die Bewegung. So kommt es, daß sich überwiegend weiße Wolken, manche sind mit einem leichten Grauschleier versehen, über dem See sammeln und im Zusammenspiel mit der Sonne ein wahres Schattentheater auf der Seeoberfläche veranstalten. Es ist, als zöge die Göttin Juno auf diesen wattierten Gebilden über den See hinweg.

Und heute ist dies ein besonderes Schauspiel nicht nur, weil es am Zürichsee stattfindet, sondern weil gestern den ganzen Tag ein Gießkannenregen über Zürich niederging, der die Stadt im Vollwaschprogramm zu reinigen schien. Unwillkürlich fielen mir Szenen aus Frischs „Stiller“ oder Dürrenmatts melancholiehaltigen Kriminalstücken ein. Die Cafés waren stark frequentiert und auch die aufgeschlagenen Zeitungen schienen den Regenrausch draußen nicht sonderlich zu beeindrucken. Ja denken sie nur, es regnete – und es war wie Jazz; die Tropfen-Tremolos der Regen-Combo prasselten – mal stärker, mal schwächer – rhythmisch gegen die Fensterscheiben. Ein in der Ferne tönendes Martinshorn hörte sich an wie ein Trompetensolo, ein bremsendes Auto wie der schrille Klang des Altsaxophons. weiterlesen...

Der brennende Spiegel

April 1997

Kippen liegen wie Leichen übereinander getürmt im Aschenbecher. Staub, Asche und kraterähnliche Abdrücke von Geschirr unterbrechen die Maserung der Tischplatte. Ein Pornoheft liegt schwer auf der zerzausten Tageszeitung. Tassen und Gläser stehen wie unbewohnte Bauwerke herum. Aus einem fetten Portemonnaie steht ein speckiger Kamm, dem ein paar Zacken fehlen. Ein Brillenetui lehnt lässig an einer Bierflasche, die alle anderen Gegenstände überragt. Eine verlassene Tischlandschaft mit ein paar gleichgültig wirkenden Stühlen um sich herum. Ein schwacher Sonnenstrahl läßt den Staub tanzen. Früher, sagen die Stühle, da herrschte noch Ordnung. Da hatten wir noch einen festen Platz und atmeten den mistwarmen Geruch der Körper. Ja, sagt der Tisch, das waren noch Zeiten, als die Diktatur der Politur jeglichen Staub zur Räson brachte. Da konnte man sich noch in der Mattscheibe gegenüber spiegeln. Es roch jeden Morgen nach Kaffee, Milch und Brot. Auch der schwere Schrank meldet sich zu Wort: Da stand ich nicht so schutzlos, mit offenen Türen und abgebrochenem Schlüssel. Ich beherbergte das gute Porzellan und die Bücher von Bertelsmann; das Familienalbum war Dauergast. Nur sonntags wurde ich geöffnet, ansonsten wurde ich in Ruhe gelassen. Das Ticken der Wanduhr über mir war mein Herzschlag, mein Puls. Die Uhr war mein Kopf, ich bin alleine ohne Uhr. Die immerweißen Vorhänge sorgten für gleichmäßiges Licht und hielten die Unruhe von draußen fern. Das Sofa würde auch gerne etwas sagen, doch ein schwerer Körper nimmt ihm fast die Luft. Es gibt keine freie Stelle, die nicht mit Kleidern oder Zeitungen zugedeckt ist. Als die Last des Sofas zu stöhnen beginnt, sich noch dreht und streckt, schweigen auch die anderen Gegenstände im Raum. Aus der Küche vernehmen die Möbel Geräusche, die sie von früher her kennen. Sie scheinen von unendlich weit her zu kommen. Klapperndes Geschirr, das Reiben der Brotschneidemaschine, das Ächzen der Kaffeemaschine. Meinem Gefühl nach, denkt der Schrank, müßte es jetzt Mittagessen geben, nicht Frühstück. Schon dieses Wort. Früher gellte es durch die Zimmer, morgens um sieben: Früüühstück!! Kurz darauf baumelten sechs Kinderbeine unter dem Tisch. Danach erschienen die Hosenfalten, aus denen Hühneraugen schielten. Es roch nach Käse. Etwas später kam ein weiteres Paar Beine hinzu, Beine mit Waden wie Blumenvasen, an deren Enden plumpe Pantoffeln hingen. weiterlesen...

Note blau

März 1997

Ich bin sicher, sie kennen mich. Mehr oder weniger. Ihr Verhältnis zu mir ist unterschiedlich, wahrscheinlich völlig unterschiedlich, obwohl ich immer gleich bin. Aber nicht immer gleich viel  wert. Aber das, so nehme ich an, spielt bei ihrem Verhältnis zu mir eine geringere Rolle. Bei ihnen geht es vielmehr um die Frage, was sie für mich bekommen. Oder was sie dafür geben. Und das ist schon ein wesentlicher Unterschied. Sie werden wahrscheinlich überrascht sein, daß ich einfach so zu ihnen spreche. Aber heute spreche ich überhaupt zum ersten Mal. Abgesehen davon, daß ich durchschnittlich sowieso nicht länger als einen halben Tag bei ihnen bin. Es mag jetzt sicher auch daran liegen, daß sie mich so ausführlich betrachten. Wie finden sie mich? Sagen sie es ruhig! Ach ja, daß ich gerade heute zu ihnen spreche..., ich weiß es nicht, denn ich habe normalerweise keine Erinnerung. Ich bin oberflächlich betrachtet gesehen ein Gegenstand. Und Gegenstände sprechen bekanntlich nicht. Wozu auch? Sprache ist den Menschen vorbehalten. Doch stellen sie sich einmal vor, jedes gesprochene Wort würde als Gegenstand aus ihrem Mund herausfallen. Was hätten sie für ein Leben! Lauter vergegenständlichte Wörter um sie herum, eine Schatzkammer voller Wörter oder eine Müllhalde. Oder ein Wort-Antiquariat, ein Supermarkt voller Wortgegenstände. Ich bin sicher, viele von ihnen müßten umziehen, weil keine Wörter mehr in die Wohnung passen würden. Wir hätten einen völlig neuen Wirtschaftszweig, der mit dem Sortieren und Verwerten der Wortgegenstände boomen würde. Und einige von ihnen würden wohl sehr sparsam mit Ausdrücken und Wörtern umgehen. Denn es ist letztlich eine Frage des Raumes, den man noch um sich haben möchte. Ein wenig sollten sie sich ja noch bewegen können. Sagen sie mal „Haus“..., jetzt sagen sie mal „Stein“.... Sehen sie, merken sie den Unterschied? Natürlich sind sie froh, daß es nicht so ist. Und ich bin es ehrlich gesagt auch. Sonst gäbe es mich nämlich gar nicht, oder zumindest nicht in dieser Form. Was meine Form anbelangt, da kann ich ihnen gerne etwas dazu sagen. Meine Maße sind 15,3 cm x 7,3 cm, also 111,69 cm im Quadrat. Und davon die Wurzel - na ja, so genau muß es doch nicht sein. Ich bin also ein Rechteck, dessen Länge etwas mehr als das Doppelte der Breite beträgt. Und ich bin aus Papier. Geboren bin ich am 02. Januar 1989 in Frankfurt am Main. Meine Nummer lautet AA 5582015 D7 und meine Farbe ist überwiegend blau. Aus dem Hintergrund tritt ein leichtes Gelb hervor, ein historisches Gelb. Doch dazu später. Daß ich mit ihnen sprechen kann, liegt vor allem auch an Clara, deren Bild ich trage. Clara und ich gehören zusammen, wir sind unzertrennlich. Sie kann so wenig von mir weg wie das ihre Seele von ihnen kann. Schauen sie sich Clara an, was denken sie von ihr? Was sehen sie? weiterlesen...

Nach oben